Postfaktisches Zeitalter
Manche Witze haben „einen Bart“. Sie wurden schon vor 20 oder 30 Jahren erzählt und eigentlich ist die Pointe den meisten Menschen schon bekannt. Dies scheint bei einem Graffiti, welches sich schon vor 30 Jahren an den Wänden einer amerikanischen Universität fand, nicht so: „Ich habe mir meine Meinung gebildet, verschont mich mit euren Tatsachen!“ war da in englischer Sprache (opinion/facts) aufgesprüht.
Das Auseinanderhalten von Fakten und Meinungen scheint am Beginn des 21. Jahrhunderts immer weniger zu gelingen. Ja, es könnte sogar eine Ursache für die Heftigkeit der Diskussion zur Corona-Pandemie sein. Und für die Unversöhnlichkeit der Standpunkte! Ein weiterer Faktor ist die stark in Mode gekommene „Kampf-Rhetorik“. Immer weniger scheint es darum zu gehen, ein Gespräch zu führen, in einem wertschätzenden Dialog auf die Argumente der Gegenseite zu hören und auf diese Art und Weise sogar etwas voneinander zu lernen. Stattdessen wird systematisch versucht, jede andere Meinung abzuwerten, lächerlich zu machen, zu denunzieren.
So eine Gesprächsführung ist jedem Meinungsaustausch hinderlich. Wenn sie die Trennung von Meinungen und Fakten nicht berücksichtigt, sondern alles wie in einem übergroßen „Sprach-Fleischwolf“ vermengt, zerstört sie die Brückenfunktion der Sprache zwischen uns Menschen. Es ist oft mühsam, nach einem Unfall Zeugen zum Hergang zu befragen. Manche wollen ein rotes und ein silbernes Auto gesehen haben. Andere meinen, ein blaues Auto wahrgenommen zu haben. Wie hilfreich ist in solchen Fällen eine Fotografie, die Fakten, wie z.B. die Autofarbe, außer Streit stellt. Auch wenn in unserem „postfaktischen Zeitalter“ die Meinung zunimmt, es ginge nur darum ein möglichst glaubwürdiges Narrativ zu erzählen, bleibt die Rückbesinnung auf Fakten sinnvoll. Die gemeinsame Anerkennung der Wirklichkeit ermöglicht respektvoll geführte Dialoge.
Im Jahr 1952 sagte Konrad Adenauer: „Ich war bereit – das muss man immer sein – auch von politischen Gegnern zu lernen; denn jeder von uns hat das Recht, klüger zu werden.“
Andreas Gjecaj ist FCG-Generalsekretär, ÖGB-Sekretär und Redakteur des „Vorrang Mensch“-Teams