Unschuldsvermutung
Für Aufsehen sorgte im Februar Kritik der Grünen am Koalitionspartner ÖVP. Diese habe mit ihren Aussagen den Anschein erweckt, als hätte sie ein „gestörtes Verhältnis“ zur unabhängigen Justiz. Auslöser waren eine Hausdurchsuchung beim amtierenden Finanzminister und ein Misstrauensantrag der Opposition, der im Parlament keine Mehrheit fand.
Das Vorgehen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wurde, mit Verweis auf einige Aktionen der WKStA, von Spitzenvertreter/innen der ÖVP als Verfehlungen kritisiert. Leider gelang in der öffentlichen Diskussion kein Durchbruch in der entscheidenden Frage: War diese Kritik berechtigt? Oder zeigt sie ein „gestörtes Verhältnis“ zur Justiz und stellt – wie von Opposition, grünem Regierungspartner und Medien behauptet – bloß ein Ablenkungsmanöver dar? Immerhin hat ein Gericht entschieden, dass die von der WKStA betriebene Hausdurchsuchung im BVT rechtswidrig war. Es braucht kein Gerichtsurteil, um zu wissen, dass die geheime Aufzeichnung einer Dienstbesprechung in der WKStA ebenso rechtswidrig war, wie deren Weitergabe an die Medien. Die Anzeige der WKStA gegen eine Journalistin, die es gewagt hatte, Kritik zu formulieren, wurde von der übergeordneten Behörde nicht weiterverfolgt. Zum wiederholten Mal wurde öffentlich behauptet, dass Beschuldigte ihren Status, über den sie laut Gesetz „zeitnah“ zu informieren wären, aus Medien erfahren. Wenn bei Hausdurchsuchungen sichergestellte Unterlagen in Zeitungen abgedruckt und im ORF gezeigt werden, werden nicht nur Grundrechte der Beschuldigten verletzt, sondern wird auch das Vertrauen in die Justiz untergraben. Eine lange Liste, die einen Vergleich zulässig erscheinen lässt: Ein Obstbauer, der einen faulen Apfel aus der Kiste entfernt, hat keineswegs ein „gestörtes Verhältnis“ zu seinen Äpfeln! Vielmehr schützt er sie. So gesehen ist Kritik unverzichtbar!
Weil in Österreich Demokratie und Rechtsstaat funktionieren, dürfen wir der unabhängigen Justiz vertrauen und getrost die Ergebnisse der Ermittlungen abwarten. Und bis dahin gilt die Unschuldsvermutung!
Andreas Gjecaj ist FCG-Generalsekretär, ÖGB-Sekretär und Redakteur des „Vorrang Mensch“-Teams