Faires Verfahren
Am 11. Oktober 2021 wurde in der Hofburg der neue Bundeskanzler, Alexander Schallenberg, angelobt. Was sich in den Tagen davor in den österreichischen Medien abgespielt hat, wird gerne als Triumph für den Aufklärungs-Journalismus gefeiert, zugleich jedoch die Kehrseite verschwiegen.
Dabei geht es nicht um die Verteidigung einzelner Beschuldigter, sondern um viel mehr: es geht um unseren Rechtsstaat! Es geht darum, ob wir auch in Zukunft in Österreich die Gültigkeit der Menschenrechte anerkennen. Zu jedem Fernsehkrimi gehören Szenen mit Handschellen und Festnahmen. Und ebenso bekannt ist die Belehrung durch die Polizei: „Sie haben das Recht auf …usw.“ Dies war keineswegs immer so. In Österreich kennt man Folterkammern zum Glück nur mehr in alten Burgen, aber die schlimmen Zeiten von Rechtlosigkeit, Folter und Lynchjustiz hat es wirklich gegeben. Von Diktaturen, die in anderen Teilen der Welt auch heute existieren, ganz zu schweigen. In der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ steht seit 1948 im Artikel 12: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr … ausgesetzt werden.“ Und in der „Europäischen Menschenrechtskonvention“ ist das Recht auf ein faires Verfahren im Artikel 6 ausformuliert. Aktuell wird dazu flugs eine Geschichte aus dem Hut gezaubert. Das Narrativ lautet: Ja, ja, im Strafrecht solle es unabhängige und unparteiische, auf Gesetz beruhende Gerichte geben, aber hier ginge es ja um moralische und politische Fragen! Hilft es uns als Gesellschaft, bei moralischen und politischen Fragen unfair zu sein? Teile von Gerichtsakten in Zeitungen abzudrucken, im ORF vorzulesen, im Parlament auf den Tisch des Bundeskanzlers zu legen und so Vorverurteilungen Tür und Tor zu öffnen?
Immerhin steht die Unschuldsvermutung im Artikel 11 der Menschenrechte, wonach jeder Mensch so lange als unschuldig anzusehen ist, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für sein Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.